Harf ZimmermannHufelandstrasse | Berlin | 1055

 

1987, Tommy, Manuela, Sylvie, Trixi, Wembley und Schnüdel

1986, Irmchen und Oskar Fleischer und ihr Hund Putzi

1986, Der Balkon von Frau Schönfeld gegenüber von Nr. 17

1986, Nr. 20, AKA Elektrik

1987, Rocky

1986, Frau Töpfer und ihr Enkel René

1987, Familie Baehr am 38. Geburtstag der Republik

1987, Drei Geschwister

1986, Schüler, genannt Schüler

1986, Fleischerei Neumann auf dem Hof von Nr. 17

1987, Susanne, genannt Nora

1987, Die Rockband Phonolog im Hof von Nr. 22"

1987, Die Maurer der Rekonstruktion im Hof von Nr. 17

1986, Die Kriegslücke und der Trabant 500

1986, Der Blick aus meinem Fenster

1987, Zwei Schüler der 8. Klasse

1986, E. Paulus und seine Frau

1986 / 1987


Es musste einst eine stolze Straße gewesen sein, die nun im Niedergang begriffen und von jener bleiernen Müdigkeit umhüllt war wie der Rest des Sozialismus in den 1980er-Jahren. Sie war besonders schon vor DDR und Mauerbau und erst recht danach. Sie war es noch, als ich 1981 einzog in das Haus Hufelandstraße Nummer 31, Seitenflügel, fünf Treppen,1-Raum-Wohnung mit Ofenheizung und Innen-WC. Etwas von ihrer Großartigkeit schien auf rätselhafte Weise überlebt zu haben, und auch das Gefühl der Leute, in einer besonderen Straße zu sein, war irgendwie noch intakt: Das ist der Kurfürstendamm des Ostens, raunte man. Es gab, in geheimnisvollen Gelassen, verblüffend viele privat geführte Geschäfte und kleine Handwerksbetriebe, die von den Enteignungen verschont geblieben waren. Es gab große Linden, breite Fußwege, Balkone und Stuck an den Fassaden, dahinter großzügige Hausflure und bürgerliche Wohnungen mit Parkett und Flügeltüren.

Und es wohnten ganz andere Leute da als im Rest der immer mehr abstumpfenden Gesellschaft. Schräge Vögel, wie der Klavierbauer und Schauspieler Franz List, der mit seinem Konzertflügel in einem ehemaligen Laden hauste, vor der Tür sein Mercedes, Baujahr 1934, in den er ab und zu eine gewaltige Autobatterie hievte und den Motor startete. Aber er fuhr nie, setzte sich nur hinein, kurbelte die Scheibe herunter und fütterte Tauben. Oder der schwule Kellner Erich, der im Kunstpelz und mit roten Pumps auf seinem Motorroller durch das Viertel fuhr und laut auf alles und jeden schimpfte, insbesondere auf den Sozialismus, und das immerhin unter den Augen ortsansässiger Parteifunktionäre. Aber auch die zogen nicht so gern in die Vorzeigeprojekte aus Beton, sondern wollten lieber hohe stuckverzierte Decken, Badewannen mit Löwenfüßen und Treppengeländer aus Eiche. Und es wohnten da solche wie ich. Und alle schienen sich dem Ort verbunden und verantwortlich zu fühlen und in einem verborgenen Konsens zu handeln, ständig bemüht, die Artenvielfalt ihrer Insel so lange wie möglich vor dem grauen Meer zu retten.

Aber die Einschläge waren längst da. Als 1985 wegen Baufälligkeit die meisten Balkone abgenommen wurden, als 1987 die letzte der großen Linden gefällt war, weil die Gasleitung undicht und der Boden vergiftet war, schien alles zu Ende zu gehen. Die Häuser standen entblößt und geschändet, der Niedergang war nun offensichtlich. Und ich fühlte mich wie der letzte Zeuge, der alles noch einmal hatte sehen dürfen, ehe es unwiderruflich verlöschen würde. Ich war mit Plattenkameras, die etwa so alt waren wie das Viertel, mit Stativ und schwarzem Tuch, über mehr als ein Jahr unterwegs: tags auf der Straße und nachts in meinem Reich, der Küchendunkelkammer.

Harf Zimmermann
Berlin, 2017